#3 Was ist Kino? André Bazin.

In der Geschichte der Filmtheorie gibt es kaum eine Figur, deren Einfluss so tiefgreifend und deren Philosophie so zeitlos relevant geblieben ist wie der französische Kritiker André Bazin. Als geistiger Vater der Nouvelle Vague und Mitbegründer der Cahiers du Cinéma entwickelte Bazin in seinen gesammelten Essays, insbesondere im ersten Band von Qu’est-ce que le cinéma? (Was ist Kino?), eine Theorie, die das Kino nicht primär als eine Kunst der Manipulation, sondern als eine Kunst der Offenbarung versteht. Für Bazin ist die Kinematographie – die Arbeit mit Licht, Objektiv, Bildausschnitt und Aufnahmedauer – weit mehr als ein technisches Handwerk zur ästhetischen Verschönerung einer Erzählung. Sie ist ein ontologisches Instrument, ein Werkzeug zur Erforschung des Seins, das die Fähigkeit besitzt, die emotionale Distanz zwischen dem Zuschauer und der Welt auf eine Weise zu überbrücken, wie es keiner anderen Kunstform möglich ist (Bazin, 1967).

Um die emotionale Tragweite der Kinematographie bei Bazin zu begreifen, muss man zunächst seine radikale Definition des fotografischen Mediums verstehen. In seinem grundlegenden Essay “Die Ontologie des fotografischen Bildes” (1945) legt Bazin das Fundament seiner gesamten Filmtheorie. Er beginnt nicht mit Technik, sondern mit Psychoanalyse und Geschichte.

Der Mumienkomplex

Bazin verortet den Ursprung der bildenden Künste (Malerei, Skulptur) in einem tief menschlichen psychologischen Bedürfnis: dem Kampf gegen den Tod. Er nennt dies den “Mumienkomplex”. Die Ägypter, so argumentiert er, balsamierten ihre Toten ein, um das körperliche Erscheinungsbild gegen den Verfall zu immunisieren. Der Tod wird hier als der “Sieg der Zeit” über den Menschen definiert. Die künstliche Fixierung des Körpers ist der Versuch, das Leben aus dem Fluss der Zeit zu reißen und es “im Laderaum des Lebens zu verstauen”.   

Diese historische Perspektive ist entscheidend für das Verständnis der Kinematographie. Jede Statue, jedes Porträt war historisch gesehen ein magischer Akt des Überlebens, ein “After-Life” durch Repräsentation. Doch die Malerei scheiterte letztlich an ihrer eigenen Subjektivität. Egal wie realistisch ein Gemälde von Holbein oder Rembrandt sein mag, der Betrachter weiß intuitiv, dass es sich um eine Interpretation handelt, gefiltert durch den Geist und die Hand des Künstlers. Es ist eine Ähnlichkeit (Resemblance), aber keine Identität. Die Emotion, die ein Gemälde auslöst, ist daher immer eine ästhetische, die durch das Bewusstsein der künstlerischen Intervention gebrochen wird.   

Das Totale Kino. Die perfekte Illusion

Bazin geht in seinem Essay “Der Mythos vom Totalen Kino” noch einen Schritt weiter und behauptet, dass das Kino nicht als technologische Erfindung begann, sondern als eine Idee. Die Erfinder des Kinos (Edison, Lumière, Marey) waren getrieben von einem uralten Menschheitstraum: der totalen Reproduktion der Realität.   

Dieser Mythos ist der Wunsch nach einer Welt, die der unseren vollkommen gleicht, aber nicht den Gesetzen der Vergänglichkeit unterworfen ist. Bazin argumentiert: “Kurz gesagt, das Kino ist noch nicht erfunden worden!”. Jede technische Neuerung – Ton, Farbe, 3D, Cinemascope – ist ein weiterer Schritt auf dem Weg zu diesem asymptotischen Ziel der totalen Realität.   

Für die emotionale Wirkung bedeutet dies: Je näher die Kinematographie der totalen sensorischen Reproduktion der Realität kommt, desto geringer wird die Distanz zwischen Zuschauer und Geschehen. Die “perfekte Illusion” ist jedoch paradox. Wäre die Illusion perfekt, wäre sie keine Kunst mehr, sondern das Leben selbst. Die Kunst der Kinematographie besteht also darin, diese Spannung zwischen der Realität (dem Rohmaterial) und dem Rahmen (der Leinwand) aufrechtzuerhalten. Die Emotion entsteht in diesem Spannungsfeld: Wir wissen, dass es ein Film ist, aber unsere Sinne und unser Unterbewusstsein akzeptieren es als Realität. 

Die Ästhetik der Manipulation: Der Glaube an das Bild

Zu den Regisseuren, die “ihren Glauben in das Bild setzen”, zählt Bazin vor allem die sowjetischen Montagetheoretiker (Eisenstein, Kuleschow) und die deutschen Expressionisten (Wiene, Murnau in seinen frühen Phasen).

  • Der Expressionismus (Plastizität): Im Film Das Cabinet des Dr. Caligari wird die Emotion durch massive Manipulation der Mise-en-scène erzeugt. Verzerrte Kulissen, extremes Make-up und theatralische Beleuchtung schaffen eine künstliche Welt. Bazin kritisiert dies nicht per se, aber er sieht darin eine Sackgasse für den Realismus, da die Realität in eine “halluzinatorische Welt der Illusion” verbannt wird. Die Emotion ist hier das Produkt einer stilistischen Überwältigung.   
  • Die Montage (Zeitliche Manipulation): Noch kritischer sieht Bazin die Montage, wie sie von Eisenstein propagiert wurde. Im Kuleschow-Effekt wird die Bedeutung (und damit die Emotion) nicht durch den Schauspieler oder die Aufnahme selbst erzeugt, sondern ausschließlich durch die Juxtaposition (Nebeneinanderstellung) zweier Bilder. Ein neutraler Gesichtsausdruck + Suppe = Hunger. Ein neutraler Gesichtsausdruck + Sarg = Trauer. Bazin nennt dies “Schatten des Bildes”, projiziert auf das Bewusstsein des Zuschauers.   

Für Bazin ist diese Art der Emotionserzeugung autoritär. Sie schreibt dem Zuschauer genau vor, was er zu fühlen hat. Sie zerstückelt die Welt in Zeichen und Symbole und beraubt die Realität ihrer Mehrdeutigkeit (Ambiguität).

Die Tabelle der zwei Schulen

Um die Unterschiede in der emotionalen Wirkungsweise zu verdeutlichen, lässt sich Bazins Klassifizierung wie folgt strukturieren:

MerkmalGlaube an das Bild (Die Imagisten)Glaube an die Realität (Die Realisten)
Primäres WerkzeugMontage, Plastizität (Licht/Dekor), ExpressionismusTiefenschärfe, Plansequenz (Long Take), Location-Dreh
Philosophisches ZielBedeutung erzeugen oder interpretierenBedeutung enthüllen, die in der Realität liegt
Umgang mit ZeitKomprimierung, Dehnung, Fragmentierung (abstrakt)Respekt vor der Kontinuität und Dauer (konkret)
Umgang mit RaumZerstückelung zur Lenkung der Aufmerksamkeit (Kuleschow)Bewahrung der räumlichen Einheit (Ambiguität)
SchlüsselfigurenEisenstein, Wiene (Caligari), GanceStroheim, Murnau, Flaherty, Renoir, Welles, Wyler
Emotionale WirkungSuggestiv, gelenkt, intellektuell konstruiertViszeral, partizipativ, aus der Ambiguität geboren

Der Glaube an die Realität

Dem gegenüber stehen die Regisseure, die “ihren Glauben in die Realität setzen”. Hierzu zählt Bazin in der Stummfilmzeit Erich von Stroheim, F.W. Murnau und Robert Flaherty, und später Jean Renoir, Orson Welles und William Wyler.   

Diese Regisseure nutzen die Kinematographie nicht, um die Welt zu zerlegen und neu zusammenzusetzen, sondern um sie in ihrer räumlichen und zeitlichen Integrität zu bewahren. Stroheims Philosophie beschreibt Bazin so: “Schau dir die Welt genau an, schau immer wieder hin, und am Ende wird sie dir all ihre Grausamkeit und Hässlichkeit offenbaren”.   

Hier wird die Kamera zum Instrument der Geduld. Die Emotion wird nicht gemacht, sie wird gefunden. Flahertys Nanook of the North erzeugt Spannung nicht durch schnelle Schnitte, sondern indem er den Kampf des Inuit gegen die Elemente in seiner tatsächlichen Dauer zeigt. Wir fühlen die Kälte und die Erschöpfung, weil die Kamera uns zwingt, die Zeit mit dem Protagonisten zu durchleben (Bazin, 1967).

Einige modernere Beispiele wären:
1917 – Sam Mendes

https://offscreen.com/view/1917-the-hard-work-of-the-digital-long-take

Children of Men – Alfonso Cuarón

https://www.nytimes.com/2018/03/14/movies/children-of-men-alfonso-cuaron-ifc-center.html

Note von mir: Ein Film hat oft den Zweck, ein ganz bestimmtes Gefühl zu vermitteln – gerade in der Werbung. Schnitt und Montage sind dabei essenzielle Werkzeuge, um die Emotionen der Zuschauer zu lenken. Auch expressionistische Ansätze funktionieren heute sehr gut, weil sie visuell aus der Masse herausstechen.

Aber es stimmt: Realitätsnahe Filme, die fast ohne sichtbare Schnitte auskommen, erzielen oft die tiefste Wirkung. Hier zeigt sich ein klarer Trend im Kampagnenfilm hin zu mehr Immersion und Authentizität. (“Through your Eyes” – Leve Kühl: https://mobile.riffrafffilms.tv/uk/leve-kuhl#through-my-eyes, Adidas Kampagne 2025: https://www.adidas-group.com/en/magazine/behind-the-scenes/behind-the-2025-brand-campaign-we-all-need-someone-to-make-us-believe-you-got-this)

Bazin, A. (1967). What is cinema? 1. Univ. of Calif. Press.


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