Parallel zur Tiefenschärfe (Raum) steht die Plansequenz oder der Long Take (Zeit). Für Bazin sind Raum und Zeit im Kino untrennbar verbunden. Wenn die Tiefenschärfe den Raum respektiert, respektiert der Long Take die Zeit.
6.1 Die Dauer als Qualitätsmerkmal
Bazin glaubt, dass die Zeit selbst eine “Dichte” hat. Ein Ereignis, das in seiner realen Dauer gefilmt wird, hat eine andere ontologische Qualität als ein Ereignis, das durch Schnitte verkürzt wird. Das Warten, das Schweigen, das Zögern, all diese “toten Momente” sind essenziell für die emotionale Wahrheit.
Im italienischen Neorealismus, etwa in De Sicas Umberto D. oder Fahrraddiebe, beobachtet die Kamera oft banale Handlungen in ihrer vollen Länge. Wir sehen ein Dienstmädchen, das morgens aufsteht, Wasser kocht, die Mühle mahlt. Nichts “Dramatisches” passiert im klassischen Sinne. Doch gerade durch diese ungekürzte Dauer entsteht eine tiefe Empathie für die menschliche Existenz der Figur. Wir spüren die Last ihrer Zeit. Bazin schreibt über Fahrraddiebe: “Nichts passiert […], das nicht auch genauso gut nicht hätte passieren können”. Die Tragödie entsteht aus der bloßen Akkumulation von Zeit und Zufall, eingefangen durch eine geduldige Kamera.
6.2 Montage Interdit: Das Gesetz der Ästhetik
Bazins radikalstes Konzept in Bezug auf den Schnitt ist das der Montage Interdit (Verbotene Montage). Er formuliert ein ästhetisches Gesetz: “Wenn die Essenz einer Szene die gleichzeitige Anwesenheit von zwei oder mehr Faktoren in der Handlung verlangt, ist die Montage ausgeschlossen”.
Er führt Beispiele aus Tierfilmen und Dokumentationen an. In dem Film Where No Vultures Fly gibt es eine Szene, in der ein Kind ein Löwenbaby findet, während die Löwenmutter sich nähert.
- Würde der Regisseur schneiden (Kind -> Löwin -> Kind), würde der Zuschauer instinktiv wissen: Das Kind war nie in Gefahr. Die Bilder wurden getrennt aufgenommen. Es ist ein Trick.
- Zeigt der Regisseur jedoch Kind und Löwin in einer Einstellung (durch Weitwinkel und Tiefenschärfe), so wird die Gefahr real. Die Authentizität der Gefahr erzeugt eine viszerale Emotion (Angst), die durch Montage niemals erreicht werden könnte.



https://nonsite.org/the-reality-contract/
Bazin nennt dies den “Realitätsvertrag” (Reality Contract). Der Kameramann bürgt mit der Einstellung für die Wahrheit des Gezeigten. Sobald der Schnitt diesen Vertrag bricht, wird die Emotion zu einer bloßen intellektuellen Übung. Die emotionale Wucht von Filmen wie Der rote Ballon (Lamorisse) beruht darauf, dass wir den Ballon und den Jungen tatsächlich zusammen im Bild sehen und somit an die “Magie” als physikalisches Faktum glauben müssen.
Fallstudie Children of Men und 1917:
Children of Men (2006): Die „Montage Interdit“ im Kriegsgebiet
Cuaróns Film ist ein perfektes Beispiel für Bazins Gesetz der „Montage Interdit“. Bazin argumentiert: Wenn die Essenz einer Szene die gleichzeitige Anwesenheit von zwei Faktoren verlangt, darf nicht geschnitten werden.
Die Auto-Szene (Der Hinterhalt)
In einem der Longtakes sitzen die Protagonisten im Auto. Sie scherzen, die Stimmung ist gelöst. Plötzlich: Ein brennendes Auto versperrt den Weg, ein Mob greift an, Julianne Moore wird erschossen, die Polizei verfolgt sie. Alles passiert in einer einzigen, ununterbrochenen Einstellung.
- Anwendung des Textes: Hätte Cuarón hier die klassische „analytische Montage“ genutzt (Schnitt auf Angreifer -> Schnitt auf verängstigtes Gesicht -> Schnitt auf Waffe), wäre die Szene „konsumierbar“ gewesen. Wir hätten die Distanz des Kinos gespürt.
- Der Realitätsvertrag: Indem die Kamera im Auto bleibt und sich nicht durch einen Schnitt in Sicherheit bringt, greift Bazins „Realitätsvertrag“. Wir sehen die Insassen und die Gefahr (den Mob, die Kugel) gleichzeitig im selben Raum. Wie beim Beispiel mit dem Löwen und dem Kind zwingt uns die Kamera, die Gleichzeitigkeit von Leben und Tod zu akzeptieren. Da der Schnitt uns nicht „rettet“, entsteht jene „viszerale Emotion“, die Bazin beschreibt. Wir sind gefangen im „Hier und Jetzt“ des Autos.
Der Weg durchs Kriegsgebiet
Am Ende folgt die Kamera dem Protagonisten Theo durch ein Kriegsgebiet. Blut spritzt auf die Linse (und wird nicht weggeschnitten).
- Bazin-Analyse: Dies ist die extreme Form der „aktiven geistigen Haltung“. Der Zuschauer muss, genau wie Theo, den unübersichtlichen Raum scannen. Die fehlende Montage bedeutet, dass wir nicht wissen, woher die nächste Kugel kommt. Die Gefahr ist keine filmische Behauptung, sie ist eine räumliche Tatsache.
2. 1917 (2019): Die „Dichte der Zeit“ und die physische Empathie
Während Children of Men oft die „Montage Interdit“ nutzt, um Gefahr zu authentifizieren, ist 1917 eine Studie über Bazins Konzept der „Dauer als Qualitätsmerkmal“. Der Film ist so inszeniert, dass er (scheinbar) aus einer einzigen Einstellung besteht.
Das Gehen und das Warten
Ein Großteil des Films besteht darin, dass die zwei Soldaten, Blake und Schofield, gehen und die verschiedensten Probleme lösen. Sie laufen durch Schlamm, durch Gräben, über Wiesen.
- Anwendung des Textes: Bazin schreibt, dass Zeit eine „Dichte“ hat und dass „tote Momente“ essenziell für die emotionale Wahrheit sind. Im klassischen Kriegsfilm würde man die lange Wanderung durch einen Schnitt verkürzen (Ellipsen). 1917 verweigert dies. Wir müssen jeden Meter mitgehen. Der Zuschauer und Protagonist, weiß dass die Zeit drängt, doch wird er oft aufgehalten um Hindernisse zu überwinden. Der Zuseher sieht jeden Schritt und fühlt sich mittgehangen.
- Die Entstehung von Empathie: Wie beim Dienstmädchen in Umberto D., dessen banale Handlungen Empathie erzeugen, erzeugt hier die bloße physische Anstrengung der Dauer eine Verbindung. Wir spüren die Erschöpfung, weil wir die Zeit der Erschöpfung mit den Figuren teilen. Die Tragödie des Krieges wird nicht nur durch Explosionen erzählt, sondern durch die mühsame „Akkumulation von Zeit“, die es braucht, um das Niemandsland zu durchqueren.
Die Szene des rennenden Soldaten (Der Graben-Run)
Gegen Ende rennt Schofield parallel zum Schützengraben, während hunderte Soldaten aus dem Graben in den Tod stürmen und Bomben fallen.
- Montage Interdit: Hier greift wieder das Löwen-Beispiel. Würde Mendes schneiden (Schofield rennt -> Explosion -> Schofield rennt), wüssten wir: Es ist ein Trick. Durch die Totale, die Schofield und die Explosionen gleichzeitig zeigt, bürgt der Kameramann (Roger Deakins) für die Wahrheit des Moments. Auch wenn digitale Hilfe im Spiel ist: Die Wirkung ist die von Bazin beschriebene: Wir glauben an die Gefahr, weil Raum und Zeit nicht zerstückelt werden. Es hilft dabei auch, dass der Schauspieler (George Mackay) von einem Komparsen umgeranntwurde. Diese Imperfektionen helfen Filmen Realitätsnäher zu sein.
Fazit der Fallstudie
Bazin sah im Long Take und der Tiefenschärfe einen Weg zurück zur Unschuld des Auges.
- Children of Men nutzt diese Technik für Terror: Die Weigerung zu schneiden (Montage Interdit) nimmt dem Zuschauer den Schutzmechanismus des Filmschnitts. Die Gewalt wird unausweichlich.
- 1917 nutzt diese Technik für Immersion: Die ununterbrochene Dauer („Dichte der Zeit“) zwingt den Zuschauer, die physische Distanz und die verstrichene Zeit als reale Last zu empfinden.
Bazin, A. (1967). What is cinema? 1. Univ. of Calif. Press.
Shechtman, A. (2017, 1. November). The reality contract: Rope, Birdman, and the economy of the single-shot film. Nonsite.org, 22. https://nonsite.org/the-reality-contract/