#4 Weiterführende Techniken für Realität

Tiefenschärfe und die Demokratie des Blicks

André Bazin identifiziert die technologischen und ästhetischen Durchbrüche der 1940er Jahre – insbesondere den Einsatz von Weitwinkelobjektiven und panchromatischem Filmmaterial, die eine extreme Tiefenschärfe (Deep Focus) ermöglichten, als einen “dialektischen Fortschritt” in der Filmsprache. Dieser Fortschritt ist für ihn nicht nur formaler Natur, sondern hat massive Auswirkungen darauf, wie Emotionen im Kino erlebt werden (Bazin, 1967).   

Wenn wir den vorliegenden Absatz auf Alejandro G. Iñárritus The Revenant (2015) und die Kameraarbeit von Emmanuel Lubezki anwenden, sehen wir die extreme Weiterführung dessen, was Bazin an Citizen Kane bewunderte. The Revenant ist im Grunde die moderne Erfüllung von Bazins Theorie des „totalen Kinos“, in dem die Realität unzerschnitten auf den Zuschauer einwirkt.

Fallbeispiel “The Revenant”:

1. Die Tiefenschärfe als Ausdruck der Naturgewalt Bazin lobt bei Toland (Citizen Kane), dass Vordergrund und Hintergrund gleichzeitig scharf sind. In The Revenant wird dies durch extreme Weitwinkelobjektive (Weitwinkel-Ästhetik) auf die Spitze getrieben.

  • Die Anwendung: Während das klassische Kino oft den Hintergrund unscharf macht (Bokeh), um die Aufmerksamkeit auf den Star zu lenken, sehen wir in The Revenant Leonardo DiCaprios schmerzverzerrtes Gesicht im Vordergrund und die majestätische, aber tödliche Landschaft im Hintergrund in gleicher Schärfe.
  • Der Effekt: Dies erzwingt visuell das Thema des Films: Der Mensch ist nicht losgelöst von seiner Umgebung. Die Natur ist kein bloßer Tapete, sondern ein gleichwertiger, erbarmungsloser Akteur. Die Tiefenschärfe verbindet den Kampf des Protagonisten untrennbar mit der Welt, gegen die er kämpft.

2. Die Abschaffung der „analytischen Montage“ Der Text beschreibt, wie die klassische Montage dem Zuschauer das Denken abnimmt. Iñárritu verweigert sich diesem Diktat fast vollständig durch die Nutzung der Plansequenz (lange Einstellungen ohne sichtbaren Schnitt).

  • Die Anwendung: In der Eröffnungsschlacht oder dem Bärenangriff gibt es keinen rettenden Schnitt. Wenn im klassischen Kino ein Pfeil fliegt, schneidet der Regisseur oft auf den Getroffenen. In The Revenant schwenkt die Kamera fließend vom Schützen zum Opfer und weiter zum nächsten Kampf.
  • Die Konsequenz: Der Regisseur „diktiert“ den Blick nicht durch Zerstückelung der Zeit, sondern zwingt den Zuschauer, die Dauer des Ereignisses zu ertragen. Das bringt den Zuschauer, wie Bazin fordert, näher an die „Beziehung, die der Mensch zur Realität hat“, denn im echten Leben gibt es auch keine Schnitte, um brenzligen Situationen zu entkommen.

3. Die „Demokratie des Blicks“ als Überlebensmechanismus Bazins Kernargument ist, dass der Zuschauer selbst entscheiden muss, wohin er schaut („Wir scannen den Raum“). In The Revenant wird diese Freiheit zur Pflicht.

  • Die aktive Haltung: Da die Kamera oft in einer einzigen, weiten Einstellung verharrt, während überall im Bild etwas passieren könnte (ein Angriff der Arikara aus dem Wald, ein herabstürzender Ast, eine Bewegung im Wasser), muss der Zuschauer den Bildraum permanent aktiv scannen.
  • Der „positive Beitrag“: Bazin schreibt, der Zuschauer leiste einen „positiven Beitrag zur Inszenierung“. Bei The Revenant bedeutet das: Der Zuschauer wird vom passiven Konsumenten zum virtuellen Mitleidenden. Wir suchen den Horizont nach Gefahr ab, genau wie die Figur im Film. Die „Demokratie des Blicks“ führt hier nicht nur zu intellektuellem Verstehen (wie bei Kane), sondern zu physischer Immersion. Wir sind nicht mehr sicher im Kinosessel, sondern visuell schutzlos der Weite des Raumes ausgeliefert. Der Zuseher befindet sich wortwörtlich in der Szene.

Während Citizen Kane die Tiefenschärfe nutzte, um komplexe narrative Informationen zu vermitteln, nutzt The Revenant Bazins Prinzipien für eine sensorische Erfahrung. Die von Bazin geforderte „aktive geistige Haltung“ verwandelt sich hier in einen visuellen Überlebensinstinkt. Der Film beweist, dass Bazins Theorie auch 75 Jahre später der Schlüssel ist, um die Wirkung modernen, immersiven Kinos zu verstehen (Bazin, 1967).

Warum führt diese “aktive geistige Haltung” zu stärkeren Emotionen? Weil die Emotionen, die wir selbst entdecken, tiefer wirken als jene, die uns serviert werden.

Bazin spricht von der “immanenten Ambiguität der Realität”. Das Leben kommt nicht mit Untertiteln oder Schnittmarkierungen, die uns sagen, was wichtig ist. In einer Szene mit Tiefenschärfe kann im Hintergrund etwas Tragisches passieren, während im Vordergrund etwas Banales geschieht. Der Zuschauer muss diese Spannung selbst auflösen.   

Diese Unbestimmtheit erzeugt eine psychologische Resonanz. Wir fühlen uns involviert. Wir sind Zeugen, nicht nur Konsumenten. Die Unsicherheit (“Habe ich alles gesehen?”) spiegelt die Unsicherheit des echten Lebens wider und verstärkt so die emotionale Glaubwürdigkeit der Szene.

Im Gegensatz (kurzer Teaser für den Blogpost # 6)

Oft geht dies nun in die komplett andere Richtung. Blenden werden so weit offen wie möglich benutzt um das Bokeh der Linsen hervorzuholen. Warum das gemacht wird, wird später untersucht. Oft werden so ganze TV-Serien gefilmt. Als Beispiel: The Beast in Me, The White Lotus, Shogun

Bazin, A. (1967). What is cinema? 1. Univ. of Calif. Press.

Leave a Reply

Your email address will not be published. Required fields are marked *