Die Geschichte der Frauen im US-amerikanischen Stummfilm ist weit komplexer und facettenreicher, als es die gängigen Darstellungen nahelegen. Neue Forschungen zeigen, dass Frauen in dieser frühen Phase der Filmgeschichte nicht nur als Schauspielerinnen aktiv waren, sondern eine Vielzahl von Berufen innerhalb der Filmindustrie ausübten. Von Regisseurinnen und Drehbuchautorinnen über Kamerafrauen bis hin zu Produzentinnen und Filmvorführerinnen reichte ihr Einfluss, der jedoch im Laufe der Industrialisierung und Professionalisierung der Filmbranche stark eingeschränkt wurde. Der folgende Text beleuchtet die Arbeitsbereiche und den Wandel der Rollen von Frauen in der Stummfilmzeit in mehreren Aspekten.
Frühe Rollenvielfalt: Frauen als Pionierinnen der Filmindustrie
Zu Beginn der Filmgeschichte, Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts, war die Filmproduktion geprägt von einer experimentellen, oft improvisierten Arbeitsweise, die Frauen zahlreiche Möglichkeiten bot. Die Filmindustrie war noch nicht vollständig geschlechtssegregiert, und Frauen übernahmen in dieser Zeit sowohl kreative als auch technische Aufgaben. Neben ihrer Rolle als Schauspielerinnen wirkten Frauen in der frühen Filmproduktion als Drehbuchautorinnen, Regisseurinnen und sogar Kamerafrauen mit.
Ein Beispiel für diese frühe Rollenvielfalt ist Alice Guy Blaché, eine der ersten weiblichen Regisseurinnen und Produzentinnen der Welt. Sie gründete 1910 die Solax Company in Fort Lee, New Jersey, und übernahm eine führende Rolle in der Filmproduktion. Ihre Arbeit zeigte, dass Frauen in der Lage waren, sowohl die kreative als auch die geschäftliche Leitung eines Filmprojekts zu übernehmen. Ebenso ist Gene Gauntier hervorzuheben, die ab 1907 als Drehbuchautorin, Schauspielerin und Regisseurin tätig war.
Berufliche Vielfalt und Geschlechterrollen in der Stummfilmzeit
Eine umfassende Untersuchung aus dem Jahr 1923 dokumentierte 29 verschiedene Berufe, die Frauen innerhalb der Filmindustrie ausübten. Neben kreativen Tätigkeiten wie Drehbuchautorinnen, Regisseurinnen, Cutterinnen und Produzentinnen waren Frauen auch in unterstützenden Rollen tätig, etwa als Sekretärinnen, Telefonistinnen, Haarstylistinnen und Kostümbildnerinnen. Interessanterweise waren viele dieser Berufe in den frühen Jahren der Filmproduktion nicht eindeutig geschlechtsspezifisch. So arbeiteten Frauen auch in technischen Bereichen, etwa als Kamerafrauen, Filmeditorinnen oder Laborarbeiterinnen.
Im Laufe der 1910er Jahre begann jedoch eine geschlechtsbezogene Trennung der Aufgaben innerhalb der Filmindustrie. Während Berufe wie Schnitt oder Montage zunehmend als „weiblich“ betrachtet wurden, blieben andere Bereiche, insbesondere Regie und Produktion, weiterhin männlich dominiert. Dennoch ist zu beachten, dass einige Frauen wie Lois Weber oder Dorothy Arzner es schafften, sich in diesen traditionell männlich geprägten Feldern zu behaupten.
Der Übergang zur Tonfilm-Ära: Einschränkungen für Frauen
Die Umstellung auf den Tonfilm in den späten 1920er Jahren brachte tiefgreifende strukturelle Veränderungen in der Filmindustrie mit sich, die die Rolle von Frauen stark beeinflussten. Während in den frühen Jahren Frauen wie Agnes Christine Johnston oder Sonya Levien bedeutende Beiträge als Drehbuchautorinnen und Regisseurinnen leisteten, wurde ihr Einfluss mit der Professionalisierung der Branche zunehmend eingeschränkt. Die Entwicklung hin zu einem zentralisierten Studiosystem in Hollywood bedeutete oft, dass Frauen aus Führungspositionen verdrängt wurden.
Ein prominentes Beispiel ist Dorothy Arzner, die Mitte der 1920er Jahre als einzige Frau in Hollywood als Regisseurin tätig war. Obwohl Arzner auch in der Tonfilmzeit erfolgreich arbeitete, war sie eine Ausnahme in einer zunehmend männerdominierten Industrie. Andere Frauen, die ihre Karriere in der Stummfilmzeit begonnen hatten, wie etwa Drehbuchautorinnen Josephine Lovett und Sarah Y. Mason, konnten ihre Arbeit in der Tonfilm-Ära fortsetzen, mussten jedoch häufig in unterstützende Rollen zurücktreten.
Regionale Filmproduktionen und unabhängige Initiativen
Abseits von Hollywood boten regionale Filmproduktionen Frauen oft größere Freiheiten und mehr kreative Kontrolle. Viele dieser Projekte wurden durch persönliche oder familiäre Mittel finanziert, da sie nicht die Unterstützung der großen Studios erhielten. Madeline Brandeis, die in den 1920er Jahren die Madeline Brandeis Productions gründete, nutzte beispielsweise das Vermögen ihres Mannes, um Bildungsfilme für Kinder zu produzieren. Ihre Filme wurden von Pathé vertrieben und zeigten, dass Frauen auch abseits von Hollywood erfolgreich sein konnten.
Ein weiteres Beispiel ist Ruth Bryan Owen, die 1922 den Film Once Upon a Time in Florida produzierte und dabei lokale Schauspieler und Crewmitglieder einsetzte. Diese regionalen Produktionen waren oft experimentell und nutzten die geografischen und kulturellen Besonderheiten ihrer Umgebung. Frauen wie Nell Shipman, die in Idaho Naturmelodramen drehte, und Beatriz Michelena, die in Kalifornien Westernfilme produzierte, trugen zu einer alternativen Filmkultur bei, die sich von der Hollywood-Dominanz absetzte.
Immigrantinnen und Minderheiten in der Filmproduktion
Frauen aus Einwandererfamilien spielten ebenfalls eine wichtige Rolle in der Stummfilmzeit. Alice Guy Blaché, eine französische Einwanderin, brachte ihre Erfahrung aus der europäischen Filmproduktion mit, als sie die Solax Company in den USA gründete. Andere Frauen, wie die jüdische Drehbuchautorin Sonya Levien oder die russische Schauspielerin Alla Nazimova, nutzten ihre ethnische Herkunft und ihre Hintergrundgeschichten, um sich in der Branche zu positionieren.
Gleichzeitig gab es Frauen aus Minderheitengruppen, die eigene Produktionsfirmen gründeten. Marion E. Wong, eine chinesisch-amerikanische Produzentin, gründete 1917 die Mandarin Film Company und produzierte den Film The Curse of Quon Gwon. Dieser Film, der lange Zeit als verloren galt, wurde kürzlich restauriert und zeigt, wie Frauen aus Minderheitengruppen innovative Beiträge zur Filmgeschichte leisteten.
Die Bedeutung der Zusammenarbeit: Ehepaare und Familien in der Filmproduktion
Die Filmindustrie der Stummfilmzeit war geprägt von engen Arbeitsbeziehungen, die oft in familiären oder romantischen Kontexten stattfanden. Frauen wie Gertrude Thanhouser, die als Mitbegründerin der Thanhouser Film Company tätig war, arbeiteten eng mit ihrem Ehemann oder anderen Familienmitgliedern zusammen. Diese „familiäre Produktionsweise“ ermöglichte es Frauen, Einfluss auf kreative und geschäftliche Entscheidungen zu nehmen, obwohl ihre Beiträge oft hinter denen ihrer männlichen Partner verborgen blieben.
Ein weiteres Beispiel ist die Partnerschaft von Lois Weber und Phillips Smalley, die als Drehbuchautorin und Regisseurin bedeutende Beiträge leistete. Weber gilt als eine der dynamischsten Frauen der Stummfilmzeit, deren Einfluss trotz der Zusammenarbeit mit ihrem Ehemann deutlich erkennbar bleibt.
Fazit: Ein „Goldenes Zeitalter“ der Frauen im Film?
Die ersten zwei Jahrzehnte des Stummfilms können als ein goldenes Zeitalter für Frauen in der Filmindustrie betrachtet werden. In dieser Zeit hatten Frauen Zugang zu einer Vielzahl von Berufen und prägten die Entwicklung des Mediums entscheidend mit. Mit der Professionalisierung und Zentralisierung der Branche ab Mitte der 1920er Jahre wurden jedoch viele Frauen aus einflussreichen Positionen verdrängt. Dennoch bleibt ihre Pionierarbeit ein bedeutendes Kapitel der Filmgeschichte, das eine Neubewertung der Geschlechterrollen in der frühen Filmproduktion erfordert. Die Rückbesinnung auf die Beiträge von Frauen wie Alice Guy Blaché, Lois Weber und Dorothy Arzner zeigt, dass Frauen von Anfang an zentrale Akteurinnen der Filmgeschichte waren.
Quelle: https://wfpp.columbia.edu/essay/how-women-worked-in-the-us-silent-film-industry/